Vorwort zu einem Katalog: Architektur erleben – Demokratie verstehen von Stephan Hilsberg, MdB
Die Gebäude des Bundestages gehören zu den gelungenen baulichen Experimenten der Hauptstadt. Ihre Transparenz begeistert, ihre Funktionalität besticht. Der Besucher wird schon auf Grund der Ästhetik in den Bann dieses wichtigsten und öffentlichen Ortes der Deutschen Demokratie geschlagen, und nicht wenige werden denken, wie schön es wäre, hier arbeiten zu können. Doch diese Ästhetik wirkt nicht nur einladend, sondern transportiert Bedeutungen. Sie ist transzendent. Wer im Plenum des Bundestages die Linien der Kuppel studieren kann, die sich tief in das Podium der politischen Debatte hineinziehen, und die die geschwungenen Gänge, auf denen Passanten bis tief in die Nacht hinein unbewusst Zeuge der hier ausgetragen, manchmal leidenschaftlichen, manchmal sehr speziellen, sogar unverständlichen, im schlimmsten Fall langweiligen Debatten werden, von unten betrachtet, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass alles, was hier geschieht, im offenen, im verantwortlichen Raum stattfindet. Er wird Zeuge der Strukturen gegenseitiger Verantwortlichkeit, der sich weder Wähler noch Gewählte je entziehen können. Dieser Bundestag ist ein Symbol. Einen besseren Ort als den alten Reichstag hätte er nicht wählen können. Demokratische Geschichte präsentiert sich am Ort ihrer täglichen Wiedergeburt.
Nicht alle Orte in diesem Bundestag sind laut. Manche, gerade auch die riesigen, wirken still. Im Kreuzungsbereich von Kanzleramt, dem Kopf der Executive und der sie kontrollierenden Legislative, sieht man nicht nur Schiffe über die Spree fahren, beladen mit Zuschauern und Berlin-Gästen, die sich ihrer Unterhaltung hingeben, steht man im Mittelpunkt des politischen Spannungsfeldes, von derem Funktionieren unser Schicksal abhängt.
Das ist Hinter- und Vordergrund der Bilder von Siegfried Knittel. Sie sind aus den Stimmungen dieser Gebäude geboren; Stimmungen, die den unseren sehr nah sind. Gebäude haben keine Stimmungen. Wir steuern sie bei. Sie äußern unser schicksalhaftes Verhältnis zu diesem wichtigen Ort politischer Entscheidungen in Deutschland, wo schon Einzelheiten symbolisch wirken können. In den Bildern von Knittel können wir unsere eigenen Sorgen, Hoffnungen und Unsicherheiten wieder erkennen. So wie wir mit der Politik, die wir im Regelfall nur beauftragen, aber nicht bestimmen können, und die wir bestenfalls aufmerksam begleiten, leben können, und leben müssen, so versinnbildlichen die Bilder von Knittel unser Verhältnis zu ihnen, dessen positive Aspekte Alltag und Ermöglichung sind.
Stephan Hilsberg