Expertise von Prof. Matthias Koeppel zum Werk von Siegfried Knittel

Artikel in Kunstmagazin Stayinart, Heft Voyager 3/2019

Bevor ich auf die Inhalte der Bilder und Assemblagen eingehe, erlauben Sie mir eine kurze Standortanalyse vorzunehmen. Das soll nicht topographisch gemeint sein, sondern der Versuch, das Erscheinungsbild der Gegenwartskunst ungefähr zu definieren.

Mit dem Milleniumswechsel im Jahr 2000 haben wir auch ein Jahrhundert verabschiedet, und zwar das Jahrhundert der Moderne. Ziemlich genau 100 Jahre lang wurden wir mitgerissen vom Strudel der „Ismen“, von denen sich in atemloser Geschwindigkeit der eine aus dem anderen oder auch gegen die anderen „Ismen“ entwickelte, Impressionismus, Kubismus, Expressionismus, Surrealismus, Konstuktionismus, Tachismus, Suprematismus und viele „Ismen“ mehr, die jeweils noch wieder ihre Unterabteilungen entwickelten – aber damit will ich Sie an dieser Stelle verschonen. Am Ende dieses aufgeregten 20. Jahrhunderts konnte man zu Recht sagen: Genug ist genug. Die traditionellen abbildhaften Darstellungsmethoden sind alle nur erdenkbaren Vorgehensweisen zerstört, verfremdet und umgedeutet und in großen Bereichen durch abstrakte Formenwelten ersetzt worden. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde vielerorts das Resümee gezogen: Alles schön und gut gewesen, aber nun wird es Zeit, sich wieder mit den Realitäten unseres Daseins zu beschäftigen, und zwar mit gegenständlichen Darstellungsmethoden. Wir beobachten zurzeit eine Flut von realistischen Bildern, Skulpturen und – auch das gehört dazu – Installationen und Performances. Das Bemerkenswerte an diesen neuen Formen des Realismus ist, dass in ihm und an ihm die schönsten oder brauchbarsten Versatzstücke der nunmehr historischen Moderne verarbeitet werden.

Mit diesen Feststellungen kann ich mich nun den Werken des Siegfried Knittel zuwenden, auf die das eben Gesagte in besonderem Maße zutrifft. Schon in den Titeln deutet sich an, dass hier Verwandlungen stattfinden. Realitäten werden mit Hilfe surrealer und abstrakter Überformungen interpretiert und aktuell erlebbar gemacht. Die Form der Assemblage, also der „Zusammenfügung“ von malerischen und skulpturalen Elementen, ist der Schauplatz des Zusammentreffens der stilistischen Zitate, die nicht nur eine künstlerische Haltung manifestieren, sondern auch ein religiöses und politisches Bekenntnis ablegen.

Bei der Serie der „Kreuzigungen“ ist der Spaziergang durch die Zeichen der klassischen Moderne sozusagen ein Gleichnis für die Sehnsucht nach Antworten, die überall auf der Welt andere Anlässe kennt. Die Kreuzform, dieses urchristliche Symbol, wird gespickt mit abstrakten Farbexplosionen. Durch die Eigenständigkeit der farblichen Darstellung ergibt sich dann jener Interpretationshorizont, der diese Werke so spannend macht. Bei jeder neuen Farbkomposition lassen sich  neue Assoziationen hervorrufen. Aber jenseits von allem Interpretationszauber sollte man nicht übersehen, dass Siegfried Knittels Bilder auch von ihrem formalen Aufbau immer eine perfekte Komposition ergeben, die die Basis ist, auf der die Farbklänge ihre Wirkung entfalten können. Das Finden eines außergewöhnlichen Farbklanges gehört nach wie vor zu den großen rätselhaften Mysterien in der bildenden Kunst. Spezifische Emotionen, die dadurch ausgelöst werden, lassen sich zumeist nur unzulänglich in Worte fassen.

Mit den Mitteln der Assemblage bezw. der Collage wird hier in unterschiedlicher Weise das Ethos des Christentums befragt, um nicht zu sagen angeklagt.

„Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert…“ Da wird sogar das Schwert zum Kreuz umfunktioniert. „Im Anfang war das Wort.“ Da wird vielleicht in Anlehnung an philosophische Gedanken von Nietzsche und Feuerbach die Axt am Stamm des Kreuzes angelegt, das aus einer Bibel emporwächst. Eine andere Darstellung zeigt den Gekreuzigten mit schweren Ketten, die die Gliedmaßen tief einschneiden und z.T. ganz abschneiden. In der
Arbeit „Samariterdienst“ zeigt Siegfried Knittel eine eigenwillige Interpretation einer Kreuzigungsdarstellung. Auf einer Elektronik-Platine, aus der ein Korallenbäumchen wächst, erhebt sich eine überdimensionierte Christusfigur, die zur Linken von einer geketteten Koralle und einer abstrakten Form von Stahl und Muscheln zur Rechten flankiert ist. Als Höhepunkt der Kreuzigungsszenarien sehen wir in der Assemblage „Wiederbelebungsversuch“ eine Apparatur, mittels derer die Christusfigur zum Leben erweckt werden soll. Wie dies geschieht und welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollen, das bleibt offen und steht in der Phantasie der Betrachter. Der Künstler ist nicht zu exakter Berichterstattung verpflichtet. Siegfried Knittel wird diese Deutungen nicht den einzelnen Bildern zuordnen wollen, aber für uns Betrachter erwecken sie zumindest Ahnungen von dem, was die Darstellungen ausdrücken wollen. Eine bittere poetische Formulierung – ein Beitrag zum Nachdenken über die traurige Wahrheit −, wie viel Leid die fanatische Interpretation des Glaubens über die Menschheit gebracht hat.

Das Stichwort „poetisch“ ist hier schon gefallen, und wenn es auch eine bittere Poesie ist, die mit bildnerischen Mitteln daherkommt, so ist sie doch in der Lage, uns aufzurütteln und uns in unserer bequem gewordenen bürgerlichen Welt zu erschüttern.

 

Autor: Matthias Koeppel / 1937 in Hamburg geboren, seit 1981 Professur für Zeichen und Malen an der TU Berlin, 2003 Emeritierung. Koeppel ist überzeugter Verfechter der Realismus und setzte 1973 als Gründungsmitglied der Schule der Neuen Prächtigkeit einen Gegenpol zur Abstrakten Malerei. Koeppels Oeuvre ist angesiedelt zwischen moderner Historien- und realistisch-romantischer Stimmungsmalerei. Als Chronist des Berliner Stadtlebens hat er in
sechs Jahrzehnten in zahlreichen Bildern Verlorengegangenes und Unvollendetes als Zeitgeschichte dokumentiert.