Ausstellung:  Architektur erleben – Demokratie verstehen, Deutsche Bank Unter den Linden, 2011

Künstlerische Einführung von Prof. Matthias Koeppel

Ich denke nach und möchte sogleich den zweiten Teil der Aussage mit einem Fragezeichen versehen. Ich lasse es erst auf sich beruhen und widme mich dem ersten Teil der Ankündigung: also dem Erleben von Architektur. Für uns Großstadtmenschen ist das ein Dauerzustand. Wir leben mit und in der Architektur, sie bildet sozusagen die Basis für unser städtisches Dasein. Das geschieht mit solcher Selbstverständlichkeit, dass wir kaum darüber nachdenken, geschweige denn Erlebnisse daraus ableiten; das kritische Bewusstsein, das uns darüber nachdenken ließe, dämmert vor sich hin. Dieser Zustand ändert sich schlagartig, wenn ein Künstler kommt, der die Sprache der Architektur in Bilder übersetzt und sie uns zur kritischen Betrachtung anheim gibt.

Siegfried Knittel hat das getan. Er hat nicht irgendwelche Bauten seiner künstlerischen Betrachtung unterworfen, sondern er hat seinen Standortvorteil genutzt und die Wirkungsstätten des Deutschen Bundestages zum Thema seiner gestalterischen Analysen gemacht.

Frei von staatstragender Ehrfurcht hat er seinen Blick schweifen lassen auf die zentralen Stätten, in denen Deutsche Politik erarbeitet wird. Kann man das eigentlich der Architektur ansehen? Diese Frage beantwortet Siegfried Knittel mit bildnerischer Gelassenheit.

Zeitgemäß nutzt er die Kamera und die vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen Bildbearbeitung sowie die immer raffinierter werdenden Reproduktions- und Drucktechniken, um seine Sujets optisch verfremdet ins Bild zu setzen. Wir haben es also nicht mit artigen Ablichtungen seriöser Gebäude zu tun, sondern heitere Form- und Farbspiele lassen uns das Gewohnte in neuem Licht erscheinen. Und diese Spiele geben nun Anlass, in uns fragende Gedanken aufkommen zu lassen: Wofür stehen diese Farbklänge? Bunte Heiterkeit fällt als erste ins Auge. Aber dann auch düstere Farbklänge – oder auch dramatische, die Feuer oder gar Explosionen symbolisieren könnten. Die Architekturen sehen wir meist menschenleer, aber es verirrt sich schon mal ein Pin-up-Girl ins Bundeskanzleramt, und dass da ein röhrender Hirsch steht, verwundert uns zunächst, bis wir auf dem nächsten Bild entdecken ,dass die Quadriga auf dem Brandenburger Tor von röhrenden oder besser gesagt schnaufenden Hirschen gezogen wird. Vielleicht ist der röhrende Hirsch die Symbolisierung des großmäuligen Berliners, der der Welt verkündet, dass er nicht mehr arm, aber immer noch sexy ist. Den Spekulationen werden viele Türen geöffnet. Aber jenseits von allen Interpretationszauber sollte man nicht übersehen, das Siegfried Knittels Bilder auch von ihren spannungsreichen formalen Aufbau immer eine perfekt organisierte Komposition ergeben, die die Basis ist, auf der die Farbklänge ihre Wirkung entfalten können. Das Finden eines außergewöhnlichen Farbklanges gehört nach wie vor zu den großen rätselhaften Mysterien in der bildenden Kunst. Spezifische Emotionen, die dadurch ausgelöst werden, lassen sich zumeist nur unzulänglich in Worte fassen.

Der Künstler ist nicht zu exakter Berichterstattung verpflichtet. Siegfried Knittel wird diese Deutungen nicht den einzelnen Bildern zuordnen wollen, aber für uns Betrachter erwecken sie zumindest Ahnungen von dem, was hinter den Mauern eines Parlamentes alles geschehen kann oder könnte. Ob das auf alle Zeit hin demokratisch zugehn wird, wollen wir hoffen; aber wir wissen es aus der Vergangenheit: Architektur hält immer still, auch wenn sie als Herrschaftssymbol missbraucht wird. Die Geschichte des Reichstages steht dafür. Die Kunst kann gar nicht demokratisch sein. Sie kann Stimmungen markieren, Tabus brechen und abenteuerlichen Spekulationen Raum geben. Damit sind wir beim zweiten Teil des anfangs aufgestellten Postulats: „Demokratie verstehen“ dem wir das Fragezeichen wieder entziehen können, wenn wir der künstlerischen Phantasie ein Podium geben auf dem jeder Betrachter sagen kann: Ich bin dafür, oder dagegen aber ich bin nicht unbedingt die Mehrheit.

Matthias Koeppel